Lektion 3 – Naturtöne

Vorbemerkung zu Lektionen 3-5: Im zweiten Teil des Kurses erlernst du die technische Basis des Alphornblasens – Ansatz, Atmung, Haltung. Du arbeitest an Klang und Treffsicherheit, und erweiterst dabei deinen Tonraum. Am Schluss dieses Teiles bist du mit Notenlesen und der Naturtonleiter vertraut. Nimm dir für diesen Teil 2-6 Monate Zeit.

In dieser Lektion lernst du, Naturtöne nach Noten zu spielen.

Noten lesen

Falls du das Notensystem im Violinschlüssel kennst, weisst, was Versetzungszeichen, Notenwerte, Taktarten, Bindebögen, Fermaten und Staccato sind und was piano und forte, adagio und allegro bedeuten, dann kannst du diesen Abschnitt überspringen.

Braucht es zum Alphornlernen unbedingt Noten? Nein, nicht unbedingt. Der gerne erwähnte stämmige „Ur-Senn“, der sein Horn zum Sonnenuntergang in der Bergwelt erklingen liess, spielte sicher ohne Notenmaterial. Das Alphorn eignet sich ja auch hervorragend zur solistischen Improvisation. Allerdings sind Noten zur Vermittlung von Melodien und musikalischem Wissen oder als Basis des Zusammenspiels sehr hilfreich. In den folgenden Kapiteln werde ich immer wieder Noten verwenden. Du solltest dir deshalb die nötigen Grundkenntnisse aneignen – der kleine Aufwand (5-10 Stunden Studium dürften reichen) lohnt sich! Einführungen in die Musiktheorie gibt es als Online-Lehrgänge (z.B. hier), Youtube-Videos, oder in Buchform (z.B. dieses). Da manchmal der Wunsch für eine spezifische Einführung ins Notenlesen für AlphornbläserInnen geäussert wurde, habe ich eine solche im Anhang zusammengestellt.

Spielbare Töne (Naturtöne)

Experiment: Singe eine „Sirene“ – du singst zuerst einen tiefen Ton und steigerst dann kontinuierlich die Tonhöhe. Nehme nun dein Alphorn (ohne Mundstück), und singe nochmals eine Sirene, diesmal aber ins Horn. Was passiert?

Wenn du eine Sirene in dein Instrument singst, wirst du bemerken, dass die Töne „springen“. Das ist das Resultat der akustischen Eigenschaften deines konischen Rohres. Offenbar lässt das Alphorn nur gewisse Töne zu, nämlich den Grundton und seine Obertöne. Ein Oberton ist ein Ton, dessen Frequenz ein Mehrfaches (N,in ganzen Zahlen) der Frequenz des Grundtones (F) ist. Der erste Naturton ist der Grundton selbst (1xF), der zweite Naturton hat die doppelte Frequenz des Grundtones (2xF), der dritte Naturton die dreifache Frequenz des Grundtones (3xF) und so weiter. Wenn du nacheinander die Obertöne eines Grundtones spielst, hörst du die Naturtonreihe. Mit anderen Worten: Du kannst auf dem Alphorn nur die Töne einer Naturtonleiter spielen!

Stelle dir die Töne als Schwingungen im Alphorn vor. Die Länge des Alphorns entspricht dabei genau einer Schwingung des Grundtones, zwei Schwingungen des zweiten Naturtones, drei Schwingungen des dritten Naturtones usw. Siehe die Grafik unten. Im linken Teil siehst du die Luftschwingungen im Alphorn. Zuoberst der Grundton, darunter die Obertöne. Wenn du eine Saite auf einer Gitarre zupfst, schwingen zum Grundton ebenfalls Obertöne (rechter Teil der Grafik).

Obertöne im Alphorn

Die Naturtonleiter kannst du so in Notenschrift übertragen:

Naturtonleiter

Das sind die Töne, die du auf dem Alphorn spielen kannst. Normalerweise bewegst du dich dabei im Bereich c bis g2. Der rot schraffierte Bereich, also der Grundton C sowie alle Töne über g2, ist erfahrenen BläserInnen vorenthalten (man kann übrigens auch noch höher spielen als c3). Und so klingt das auf dem (F-)-Alphorn:

Naturtonreihe auf einem F-Horn

Wahrscheinlich empfindest du die Naturtonleiter als etwas ungewohnt. Vor allem der 11. Naturton – das sogenannte „Alphorn-Fa“ – klingt für unsere Ohren schräg. Aber auch andere Töne, wie der 7. Naturton b1 weichen hörbar ab von den gewohnten Stimmungen. Diese speziellen Tonhöhen machen den Charakter des Alphorns aus! Noch vor ein paar Jahrzehnten verschmäht, werden sie darum heute bewusst und prominent eingesetzt.

Etüden

Ziel der Übung: Du kannst einfache Melodien ab Noten spielen.

Lade dir die Etüden-Sammlung Übungsmaterial für AnfängerInnen herunter. Als Ergänzung oder Alternative empfehle ich dir die Etüdensammlung Schafkopfen von Georg Haider (natürlich darfst du auch anderes Übungsmaterial wie die Alphornschule 85 oder die Méthode de Cor des Alpes benutzen). Die Etüden der Sammlung sind nach Tonumfang unterteilt und dann innerhalb jeden Tonumfangs in aufsteigender Schwierigkeit angeordnet.

Bevor du loslegst, musst du deinen eigenen Tonumfang – die Töne, die du sauber anblasen kannst – bestimmen. Du kannst das mit einer Stimmgabel, einem Klavier oder mit einer Tuner-App auf deinem Mobiltelefon machen (vergiss bei der App nicht, sie auf die Stimmung deines Alphorns einzustellen). Wenn du willst, kannst du dich auch an den folgenden Tonschnipseln orientieren:

c1-g1 (F-Horn)
c1-g1 (F-Horn)
c1-c2 (F-Horn)
c1-c2 (Fis-Horn)
g-e2 (F-Horn)
g-e2 (Fis-Horn)

Mache dich nun an die erste Übung für deinen Tonumfang. Achte beim Einüben auf folgende Punkte:

  • Spiele die Übung zuerst frei, dann mit einem Metronom. Das Metronom zwingt dich zur Präzision und macht Unsicherheiten unerbittlich sichtbar.
  • Spiele alle Töne klar an – lieber ein klarer falscher Ton als zögerliches Herantasten! Brauche dazu immer genügend Luft, denn ohne Luft klingt dein Alphorn nicht.
  • Wenn du innerhalb einer Übung Schwierigkeiten hast, übe zuerst nur gezielt diese Stelle.
  • Nimm aufmerksam wahr, was in dir vorgeht – Atmung, Zunge, Lippen. Vielleicht hilft es dir, dazu die Augen zu schliessen.
  • Beginne langsam (@60bpm – d.h. 60 Schläge pro Minute – oder noch langsamer). Erst wenn du die Übung sicher spielen kannst, erhöhst du das Tempo. Bleibe dabei massvoll, es sind keine Geschwindigkeitsübungen.
  • Verbringe pro Tag an einer Übung 5-10 Minuten. Für längere Übungsblöcke, nehme zusätzliche Übungen hinzu.
  • Wenn du eine Übung beherrscht, spiele sie weiter für 2-3 Tagen. Beginne in dieser Zeit mit der nächsten Übung.
  • Durch das regelmässige Üben, wird dein Tonumfang automatisch erweitert. Zuerst gelingt der nächst-höhere oder tiefere Ton nur knapp und unsicher, dann wird er immer runder und stabiler. Beginne mit den Übungen im neuen Tonraum, sobald du die neuen Töne halbwegs sicher triffst. Lass dich aber nicht stressen! Versuche den neuen Ton mit Überzeugung anzublasen; wenn er nicht kommt, presse nicht nach! Du lernst mehr, wenn du deinen Tonraum mit klaren und sauberen Tönen festigst, als wenn du unsicher an der Grenze deiner Tonhöhe herumprobierst.

Übe von nun an täglich an diesen Etüden. Das gilt auch für Lektionen 4 & 5 – erst in Kapitel 6 beginnst du mit neuen Übungsplänen.

Reine vs. gleichstufige Stimmung

Warum bekommst du bei einem Alphornchoral Hühnerhaut? Der Grund dafür liegt in den Obertönen. In der Illustration oben hast du gesehen, dass beispielsweise bei einer Gitarre neben der Grundfrequenz die Saite auch in der Frequenz der Obertöne mit-vibriert. Dieses Phänomen kannst du bei allen Musikinstrumenten beobachten, so auch beim Alphorn. Es ist die Kombination des Tones mit seinen Obertönen, die den Klang ausmachen. Bloss ein (elektronisch generierter) Sinus-Ton hat keine Obertöne. Im folgenden Video siehst du den Zusammenhang zwischen Obertönen und Klangfarbe:

Klangfarbe und Obertöne

Das Besondere am Alphorn ist, dass alle spielbaren Töne genau mit den Obertönen des Grundtones übereinstimmen (NxF). Auch alle Obertöne der spielbaren Töne (nxNxF) sind Obertöne des Grundtones. Bei einem sauber intonierten Alphornchoral verschmelzen darum die verschiedenen Stimmen zu einem vollen Klang – der Hühnerhaut-Faktor!

Dass in unseren Ohren die Naturtonleiter trotzdem erst einmal schräg klingt, liegt einzig daran, dass wir seit vierhundert Jahren auf eine harmonisch „falsche“ Stimmung konditioniert wurden. Schuld sind die Tasteninstrumente! Denn wegen ihnen musste man eine Stimmmethode suchen, mit der unterschiedliche Tonarten auf einer beschränkten Anzahl Tasten gespielt werden konnten. Nach verschiedenen Versuchen (vielleicht hast du von Bachs Wohltemperiertem Klavier gehört) setzte sich die gleichstufige Stimmung durch. Bei dieser wird jede Oktave streng mathematisch in zwölf Halbtöne aufgeteilt, die exakt dieselben Abstände zu einander haben (das Frequenzverhältnis zwischen zwei Halbtönen beträgt 1:1.059463). Diese gleichstufige (auch „gleichstufig temperierte“) Stimmung ist mit der Naturtonleiter nicht kompatibel. In der Grafik unten siehst du die Abweichung in Cent; ein Cent ist 1% eines Halbtonschrittes. Im spielbaren Bereich fällt vorallem das fa auf, das 49Cts unter dem fis2 liegt, also ziemlich genau auf halbem Weg zum f2. Auch die b2 und b3 liegen klar hörbar unter den entsprechenden Tönen in der gleichstufigen Stimmung. Im obersten Bereich fällt auch das a3 auf (oft auch als as3 notiert). Nur das C (C, c, c1, c2 & c3) stimmt genau überein.

Im direkten Vergleich klingt das dann so:

Die gleichstufig temperierte Stimmung hat viele Vorteile. Insbesondere ermöglicht erst sie eine grosse harmonische Flexibilität. Gitarren-Riffs mit coolen Akkord-Folgen, komplexe Modulationen in der klassischen Musik oder schnell wechselnde Harmonien im Jazz funktionieren nur dank der gleichstufigen Stimmung. Flexibilität erklärt den Siegeszug der gleichstufigen Stimmung in der westlichen Musik. Dieser ist so absolut, dass selbst die meisten professionell ausgebildeten Musiker heute keine Ahnung mehr von anderen Stimmungen haben. Dabei geht vergessen, dass wir die Flexibilität durch Verlust der perfekten Harmonie erkauft haben. Der Preis zeigt sich in Form von Schwebungen bei Akkorden in gleichstufiger Stimmung (weil es überall störende Schwebungen hat, spricht man auch von der „gleichschwebenden“ Stimmung). Nicht deine Töne klingen schräg, sondern die der anderen Instrumente – bloss hört das inzwischen kaum noch jemand! Und übrigens: die gleichstufige Stimmung wurde 1584 von Zhu Zaiyu, einem chinesischen Prinzen der Ming Dynastie, entwickelt.

Darum ist für AlphornbläserInnen das Zusammenspiel mit anderen Instrumenten so herausfordernd. Du kannst eben nur die Töne der Naturtonleiter spielen, und diese stimmen mit den Tönen der anderen Instrumente nicht einmal richtig überein. Aufgrund des kleineren Tonmaterials stehen dir nur zwei Modi (C-Dur und G-Moll) zur Verfügung, während die Musik auf anderen Instrumenten stark von Harmoniewechseln lebt. All dies bedeutet nicht, dass ein Zusammenspiel unmöglich wäre. Aber es erfordert ein Minimum an gegenseitigem Verständnis, das meistens du als „ExotIn“ im Raum vermitteln musst. Allerdings präsentiert sich in der Praxis der Unterschied nicht so dramatisch. Die oben hergeleiteten reinen harmonischen Frequenzverhältnisse lassen sich auf dem real existierenden Alphorn nur ungefähr erreichen. Jedes Alphorn weicht mehr oder weniger von der perfekten Naturtonreihe ab. Eine entscheidende Rolle spielt immer deine Intonation: mit deinem Ansatz hast du einen wichtigen Einfluss auf die Tonhöhe.

Noch ein Addendum: Vielleicht hast du schon von der 432Hz-Stimmung gehört. Dabei handelt es sich nicht um ein Stimmungssystem, sondern um den Referenzpunkt des Kammertons. Seit 1939 gilt der Standard a1 = 440Hz; in der Schweiz ist inzwischen 442Hz üblich (demnach ist der Grundton beim F-Horn 43.9Hz und beim Fis-Horn 46.5Hz). Einige glauben – ohne hier die anthroposophischen Details darlegen zu wollen – der richtige Kammerton müsste in Wahrheit 432Hz betragen. Falls du dein Alphorn auf den Kammerton 432Hz umstimmen möchtest, kannst du dafür einen entsprechenden Adapter kaufen; ich bezweifle, dass dieser den Klang deines Horns verbessert, aber möglicherweise erreichst du damit die Obertöne kosmischer Schwingungen.

Weiterführende Informationen